Ein Expertengespräch mit Dr. Veronika Klein, Katharina Möller-Weingand und Claudia Weingand
Herzlich willkommen auf dem Blog von Kernkompetenz Pferd! Heute widmen wir uns einer Frage, die viele von uns Pferde-Menschen umtreibt und die auch im Podcast von OsteoDressage und Delightful Riding heiß diskutiert wurde: Was ist Tierquälerei im Reitsport und was dient der Gesundehei? Eine provokante Frage, die eine differenzierte Antwort verdient.
Die ewige Frage: Reiten – Pro und Contra für dein Pferd
Die Diskussion, ob Reitsport Tierquälerei ist, flammt immer wieder auf, besonders in Zeiten medialer Skandale. Es ist wichtig, hier klar Position zu beziehen: Ja, Pferdetraining kann Tierquälerei sein, wenn es nicht pferdegerecht und mit dem nötigen Wissen und Respekt ausgeführt wird. Da gibt es kein Vertun. Doch die Medaille hat zwei Seiten. Aus medizinischer Sicht kann es für viele Pferde nicht nur unbedenklich, sondern sogar eine Notwendigkeit sein, um sie gesund zu erhalten.
Diese Thematik wurde kürzlich intensiv beleuchtet, als ich einer Einladung der ARD zu einer öffentlichen Diskussion folgte. Das Thema lautete plakativ: “Ist Reitsport Tierquälerei?”. In dieser Runde, besetzt mit Vertretern von PETA, Verhaltenstrainern und Pferdeausbildern, wurde schnell klar, dass viele Laien ein sehr idealisiertes, aber oft unvollständiges Bild von Pferden und ihren Bedürfnissen haben. Die Vorstellung, ein Shetlandpony einfach auf die Wiese zu stellen und es anzuschauen, mag idyllisch klingen, ignoriert aber grundlegende biologische Notwendigkeiten. Die Diskussion blieb leider oft an der Oberfläche, weshalb das Bedürfnis entstand, das Thema noch einmal fundierter aufzuarbeiten – aus der medizinischen Perspektive.
Das natürliche Bewegungsbedürfnis: Mehr als nur Wiese
Um zu verstehen, warum Reiten gesundheitsfördernd sein kann, müssen wir uns die Grundbedürfnisse des Pferdes anschauen. Ein Pferdekörper ist dafür gebaut, sich 16 bis 18 Stunden am Tag zu bewegen – überwiegend im Schritt, mit dem Kopf tief auf Futtersuche. Dabei legen Wildpferde oder naturnah gehaltene Pferde etwa 15 bis 30 Kilometer zurück. Das ist der Nordstern, an dem wir uns orientieren sollten.
In unserer zivilisierten Welt, in der Pferde unter menschlicher Obhut leben, ist es für 99,9 % der Pferde unmöglich, dieses natürliche Bewegungspensum allein durch Haltung zu erreichen. Ein Pferd nur auf die Wiese zu stellen, reicht bei Weitem nicht aus und führt oft zu Problemen wie Übergewicht, Equinem Metabolischem Syndrom (EMS), Hufrehe oder Trageerschöpfung durch zu viel Stehen.
Was bedeutet das für dich und dein Pferd? Wenn du dir die Haltung deines Pferdes ansiehst – egal ob Box, Paddock Trail oder Aktivstall – solltest du ehrlich analysieren, wie viel es sich dort tatsächlich bewegt. Nicht jeder Aktivstall garantiert automatisch ausreichend Bewegung; manche Pferde stehen auch dort viel herum. GPS-Messungen können hier erstaunliche Einblicke geben:
- Wie viele Kilometer legt dein Pferd in seiner Haltung zurück?
- Wie viele Kilometer kommen durch Spazierengehen, Longieren oder Reiten in der Halle oder im Gelände hinzu?

Visualisiere das einmal: Ziehe eine Linie für die angestrebten 20 Kilometer und trage dann mit verschiedenfarbigen Balken die tatsächliche Bewegung durch Haltung und zusätzliche Arbeit ein. Du wirst schnell sehen, ob ein Defizit besteht. Besonders beim reinen Spazierengehen gibt es zwei Knackpunkte: die erreichte Distanz und die Körperhaltung. Ein bummelnder Spaziergang mit hängendem Rücken fördert keine gesunde Körperhaltung oder Rumpfstabilität. Neben dem Bewegungsapparat gibt es weitere Organsysteme, die von adäquater Bewegung profitieren. Die Lungenbelüftung beispielsweise unterscheidet sich massiv:
von etwa 5 Litern Luft pro Atemzug im Stehen über 5,8 Liter im Schritt bis hin zu 9 Litern im Trab und noch deutlich mehr im Galopp (bis zu 1000 Liter pro Minute können hier bewegt werden). Bewegung ist also essenziell für die Gesunderhaltung des gesamten Organismus. Daher kann gesundheitserhaltendes Training für viele Pferde eine sinnvolle und notwendige Ergänzung sein.
Der Mensch als Spiegel: Erkenntnisse aus der Humanmedizin
Interessanterweise gibt es Parallelen zum Menschen. Auch wir sind für deutlich mehr Bewegung geschaffen, als unser moderner Alltag oft zulässt – Studien sprechen von bis zu 40 Kilometern täglich! Das Buch “Outlive” von Peter Attia, einem Humanmediziner, verdeutlicht dies eindrücklich mit der “Eierfangen-Analogie”: Statt ständig zu versuchen, die herunterfallenden Eier (Krankheiten) aufzufangen (Behandlung), sollte man denjenigen stoppen, der die Eier wirft (Prävention).
Für Menschen sind Schlaf, Ernährung und Bewegung die Hauptpfeiler für ein langes, gesundes Leben. Bewegung scheint dabei der wissenschaftlich am besten belegte Faktor zu sein. Bezüglich Ernährung zeigt Attia auf, dass wir oft weniger wissen, als wir glauben. Die Kernaussagen: Nicht mehr Kalorien aufnehmen als verbrauchen und den Proteinanteil erhöhen. Viele Ernährungstrends, auch beim Pferd (getreidefrei, spezielle Saaten, etc.), entbehren oft einer soliden wissenschaftlichen Grundlage. Es ist wichtig, sich von Ängsten freizumachen und zu erkennen, dass wir viele Details schlicht nicht wissen – weder beim Menschen noch beim Pferd.
Dein mentaler Rucksack: Der Schlüssel zu deiner und der Pferdegesundheit
Die vielleicht wichtigste Quintessenz aus “Outlive”, die auch für uns Pferdemenschen Gold wert ist: Die Psyche steht über allem. Unsere eigenen unaufgearbeiteten Themen, Glaubenssätze (“Ich bin nicht gut genug”, “Liebe geht durch den Magen”) und Stresslevel haben einen immensen Einfluss auf unsere Gesundheit – und auf die unserer Pferde. Viele Menschen suchen bei Pferden die Erfüllung eigener Bedürfnisse nach Liebe und Entspannung. Dieses “Nutzen” des Pferdes für menschliche Bedürfnisse kann, wenn unreflektiert, negativen Einfluss haben.
Wenn du in einer Negativspirale feststeckst, kann sich das auf die Gesundheit deines Pferdes auswirken. Sport und Ernährung können noch so optimiert sein – wenn der Kopf, die mentale Gesundheit, nicht im Reinen ist, bleibt der erhoffte Erfolg oft aus. Diese Erkenntnis ist zentral: Räume deinen eigenen mentalen Rucksack auf. Das ist oft der größte Hebel für dein Wohlbefinden und das deines Pferdes. Viele Freizeitreiter sind aus bestimmten Gründen Freizeitreiter geworden und tragen vielleicht negative Glaubenssätze zum Thema “Sport” mit sich. Diese aufzuarbeiten, kann den Zugang zum Bewegungsbedürfnis des Pferdes enorm erleichtern. Pferde lieben oft sportliche Betätigung, wenn sie gesund sind und korrekt trainiert werden. Das Tragen eines Reiters ist per se Sport für das Pferd.
Training verstehen: Druck raus, Effektivität rein
Das Wissen um trainingsphysiologische Grundlagen kann enorm viel Druck nehmen. Es ist nicht nötig, sieben Tage die Woche überschwellige Reize zu setzen. Muskelabbau beginnt erst nach etwa 10–14 Tagen Inaktivität. Drei Einheiten pro Woche mit einem überschwelligen Reiz reichen oft aus, um das Niveau zu halten oder zu verbessern. Wenn dein Pferd im Sommer durch Haltung bereits 15 Kilometer täglich schafft, kannst du entspannt in den Urlaub fahren.
Wichtig ist die Unterscheidung der Begrifflichkeiten:
- Bewegung: Jede Form von körperlicher Aktivität.
- Ausbildung: Das Erlernen neuer Fähigkeiten und Bewegungsabläufe (z.B. korrekte Galopphilfe verstehen). Hier lernt primär das Nervensystem.
- Training: Die systematische Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit (z.B. Galopp nutzen, um Ausdauer zu verbessern), nachdem eine Fähigkeit erlernt und automatisiert wurde.
- Kondition: Setzt sich zusammen aus Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit. Du kannst nicht alles in einer Einheit fokussieren.
Viele Pferde leisten laut Rationsberechnungen nicht einmal “leichte Arbeit” (definiert als z.B. 15 Minuten Trab und 15 Minuten Galopp). Das bedeutet, viele Pferde könnten im Erhaltungsbedarf gefüttert werden und profitieren von gezieltem Training, um gesundheitliche Probleme durch Bewegungsmangel und Übergewicht zu vermeiden.
Die Angst, zu viel zu tun und das Pferd zu überfordern, ist bei vielen Reitern präsenter als die Gefahr, zu wenig zu tun. Dabei geht es nicht um mehr Zeit, sondern um effektivere Zeitnutzung. Durch Pulsmessungen kannst du objektiv feststellen, ob dein Training im optimalen Bereich liegt oder ob du deinem Pferd vielleicht viel mehr zutrauen könntest. Oft ist die Erkenntnis: “Oh, ich mache eigentlich viel zu wenig!”

Lade dir die PDF Vorlage runter, druck sie aus und leg los! Nimm die Gesundheit deines Pferdes in die Hand. Trage dich mit deiner Email und deinem Namen für meinen Infobrief für Pferdemenschen ein und ich schicke dir das Lungen-Tagebuch im Nachgang per Mail.
Regeneration und das “Privatleben” deines Pferdes
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Regeneration. Probleme hier können oft auf Haltungsthemen zurückgeführt werden: Schlafmangel durch Stress in der Herde, Vertreibung von der Heuraufe. Die Psyche des Pferdes spielt auch hier eine riesige Rolle. Wenn ein Pferd in seinem Alltag Stress hat, kann das Training noch so gut sein – der Fortschritt bleibt aus, oder es kommt zu gesundheitlichen Problemen.
Pulsmessungen können auch hier aufschlussreich sein: Ein Pferd kann beim Reiten entspannt sein, aber im Offenstall oder beim Transport extreme Stresswerte zeigen, die von außen nicht sichtbar sind. Pferde sind Meister im Verstecken von Unwohlsein. Eine Pulsmessung kann dir helfen, dein Pferd noch besser zu lesen, subtile Anzeichen von Stress oder Ermüdung zu erkennen und dein Training sowie das Management entsprechend anzupassen. Es geht nicht darum, Stresssituationen gänzlich zu vermeiden, sondern darum zu verstehen, was dein Pferd leistet und was es braucht, um Herausforderungen gut meistern zu können.
Reiten, wie Pferde es lieben – Eine Vision
Was bedeutet es nun ? Für mich ist es das Bild eines Pferdes, das mit positiver Grundspannung und voller Elan mitarbeitet. Ein Galopp durch den Wald, Ohren nach vorne, vielleicht sogar durchs Wasser – das Pferd ist körperlich und mental voll dabei. Es herrscht ein tiefes Vertrauen. Du kannst deinem Pferd Kompetenz übertragen, weil es gelernt hat, wie sein Körper funktioniert und so trainiert ist, dass es diese Aufgaben meistern kann. Es ist ein Flow-Zustand aus körperlicher Leistungsfähigkeit, mentaler Freude und tiefem Vertrauen zwischen dir und deinem Pferd.

Möchtest du tiefer in die Themen Trainingsplanung, Pferdegesundheit und deine eigene mentale Stärke eintauchen (KKP-Welt)? In der Kernkompetenz Pferdewelt und in diversen Online-Kursen auf www.kernkompetenz-pferd.de biete ich dir fundiertes Wissen und praktische Unterstützung. Entdecke jetzt, wie du dein Pferd optimal fördern und eine noch tiefere Verbindung aufbauen kannst! Auch die Programme von Katharina Möller-Weingand & Claudia Weingand von OsteoDressage und Delightful Riding (www.delightful-riding.de) bieten dir hierzu wertvolle Impulse.

Wir beantworten Fragen wie…
- Überfordere ich mein Pferd?
- An welchen Tage soll ich was und wie viel machen?
- Wie kann ich ohne viel Equipment sinnvoll trainieren?
- Mein Pferd hatte krankheitsbedingt eine Pause, wie gestalte ich das Aufbautraining?
- … und noch vieles mehr!
Lass dich gleich unverbindlich für den nächsten Kursstart vormerken. Dadurch erhältst du eine Erinnerung und einen Gutscheincode wenn die nächste Runde startet. Der Kurs Trainingsplanung aus medizinischer Sicht startet
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Vom wagen Bauchgefühl zu messbaren und sichtbaren Fortschritten:
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FAQs: 5 Fragen und Antworten zur Pferdegesundheit
Ein Pferd ist von Natur aus darauf ausgelegt, täglich etwa 15–20 Kilometer, hauptsächlich im Schritt, zur Futtersuche zurückzulegen. Dieses Pensum sollte als Richtwert für eine gesunde Haltung und Bewegung dienen.
Ja, wenn es falsch, ohne Rücksicht auf die körperlichen und mentalen Bedürfnisse des Pferdes oder mit unangemessenen Methoden ausgeführt wird. Richtig und pferdegerecht durchgeführt, kann es jedoch ein wichtiger Beitrag zur Gesunderhaltung sein.
Ausbildung ist der Prozess, bei dem das Pferd neue Bewegungsabläufe und Hilfen versteht und lernt, seinen Körper koordiniert einzusetzen (z.B. eine Lektion erlernen). Training baut darauf auf und zielt darauf ab, die körperliche Leistungsfähigkeit (Ausdauer, Kraft etc.) systematisch zu verbessern.
Dein mentaler Zustand, Stresslevel und unbewusste Glaubenssätze haben einen erheblichen Einfluss. Pferde spiegeln oft unsere innere Verfassung. Eine positive, klare und stressfreie mentale Haltung deinerseits ist eine wichtige Grundlage für ein erfolgreiches und harmonisches Training.
Eine Pulsmessung gibt objektive Daten über die Anstrengung und den Erholungszustand deines Pferdes während des Trainings, aber auch in Alltagssituationen (z.B. im Stall oder beim Transport). Sie hilft, das Training optimal zu gestalten, Über- oder Unterforderung zu vermeiden und Stressfaktoren zu identifizieren.